Elba 2014: Kulinarisches Panoptikum, 3. und letzter Teil

Die 30 Euro-Enoteca

An der gleichen Strasse, in der sich das Katzenbeizli „Da Giovanni“ befindet, in welchem sich monatlich einmal die Mitglieder des munteren Strassen-Bewohner-Vereins treffen - ohne Frauen, versteht sich - um dem wohl einzigen Vereins-Statut zu frönen, nämlich gut zu essen und dabei den Lärmpegel auf gefährliche Werte ansteigen zu lassen, an dieser Strasse also befindet sich auch die 30 €-Enoteca „Gusta Vino“.


Unter dem obligaten Baldachin, der hierzulande jeden Eingang zu einem Laden oder zu einem Restaurant ziert, betreten wir die Enoteca „Gusta Vino“. Wie immer sind wir für italienische Verhältnisse eher früh dran. Wir kennen das Lokal schon von früheren Besuchen, was natürlich auch den Wiedererkennungswert von Seiten des Wirtepaares erhöht. Simona und Nicolò, beide Anfang fünfzig, führen gemeinsam die kleine aber feine Enoteca. Dabei wird eine strikte Arbeitsteilung eingehalten. Simona steht in der Küche, rüstet Gemüse, putzt Fische, stellt Pasta her, kocht die Pasta, schmeckt Saucen ab, köchelt Zuppa pavese, putzt den Herd, schneidet Brot, wäscht Pfannen und Geschirr ab, raspelt Parmigiano, hackt Gewürzkräuter und sorgt dafür, dass die Gäste zufrieden satt werden.

Während Simona in der Küche arbeitet, gibt Nicolò vorne im Lokal den Padrone. Mit seinem sonoren Bass empfiehlt er Simonas kulinarische Köstlichkeiten und referiert darüber, woher der Wein stamme, der zu diesen Köstlichkeiten passe, wie er gekeltert worden sei und was er für Eigenschaften aufweise. Wenn er diese schweisstreibende Pflicht erledigt hat, tritt er vor das Lokal, zündet sich eine Zigarette an und parliert mit seinen Kollegen, von denen immer einige unter dem Baldachin anzutreffen sind und eine mitrauchen. Ruft dann Simona aus der Küche, lässt Nicolò seinen Zigarettenstummel fallen, dreht ihn mit der Schuhspitze aus und kehrt ins Lokal zurück, um die Teller in Empfang zu nehmen, die sie ihm über die Theke reicht.


„Paganini“, wie ich Nicolò auch nenne, weil ich mir seinen Vornamen lange Zeit nicht merken konnte, ist ein grosser Mann, mit starkem Körperbau. In seinem fleischigen Gesicht fallen die grosse Nase und die listig blitzenden Äuglein auf. Vermutlich hat er es aufgegeben, seine schwarzen Haare zu zähmen, die wie Stahlwolle wirr in alle Himmelsrichtungen streben. Wenn er spricht, dröhnt sein Bass bis in die hintersten Ecken der Enoteca und lässt Regale erzittern, Weinflaschen klirren und Pfannen in der Küche scheppern.

Im Gegensatz zu Paganini ist Simona eher klein und untersetzt. Sie ist immer in der weissen Küchenschürze unterwegs. Ihr Markenzeichen ist die Mütze, die ihren Haarschopf bedeckt. Ich spekuliere mal, sie trägt diese Mütze, damit ihr die langen Haare einerseits nicht ins Gesicht und andererseits nicht in die Zuppa pavese fallen. Sie scheint ein ganzes Sortiment dieser Kopfbedeckungen zu besitzen, denn jedes Mal, wenn wir die Enoteca mit unserem Besuch beehren, trägt sie eine andere.


Die Enoteca "Gusta Vino" gehört ebenfalls zu jenen Lokalen in Portoferraio, die etwas abseits der Touristen-Trampelpfade liegen und deshalb vornehmlich von Einheimischen frequentiert werden. Eine Enoteca ist in Italien die Kombination zwischen einer Weinhandlung und einem Lokal, in welchem Spezialitäten der Region angeboten werden. Man kann fein essen, Wein ausprobieren und wenn der einem mundet, sich eine Flasche davon einpacken lassen.


Auf halber Höhe des Glasfensters und der Glastüre, welche das Lokal gegen die Strasse hin abschliessen, hängen etwas biedere, karierte Vorhänglein, welche gerade so viel neugierigen Blick verhüllen, dass man wohl das Innere der Enoteca sehen kann, nicht aber das, was der speisende Gast im Teller vor sich stehen hat. Im Sommer, bei gutem Wetter, versperren allerdings weder Glas noch Vorhang den Blick ins Innere des Lokals.


Linkerhand steht das wuchtige Weinregal, auf dem sich Flasche an Flasche reiht. Vino in allen möglichen Sorten. Vino bianco, Vino rosso, Vino von Elba, Vino vom Festland, Vino frizzante, Vino dolce, Vino Dingsbums, ich bin kein Weinkenner. Auf den obersten Regalen stapeln sich Kartons, in denen der Wein für den Verkauf bereitsteht. Neben den Weinflaschen stehen ein paar Bücher, in denen man nachschlagen kann, von welchem Weingut die edlen Tropfen stammen. Ausserdem finden sich da Tonkrüge und andere Reliquien, die den Wein betreffen.
In der ganzen Enoteca hängen Bilder und Repros mit allen möglichen und unmöglichen Motiven. Der Weinwand gegenüber, etwas erhöht, läuft - wie könnte es anders sein - ein TV-Gerät. An der Decke hängen ein paar jener schmucklosen Leuchten, welche die Fischer auf ihren Booten verwenden, um damit bei ihren frühmorgendlichen Fahrten aufs Meer hinaus die Fische anzulocken.


Das Mobiliar, Regal, Tische und Theke bestehen aus dunkelbraun lackiertem Holz. Zusammen mit den dunkelgrauen Steinplatten des Fussbodens, geben sie dem Lokal ein düsteres, aber gemütliches Aussehen. So ein bisschen Piraten-Kaschemme-Flair. Die wuchtige Theke nimmt fast einen Vietel des ganzen Lokals ein, so dass nur gerade vier Tische Platz haben, an denen man sich den lukullischen Genüssen widmen kann, welche Simonas Küche zu bieten hat. Die Stühle sind, passend zu den farbigen Servietten, in ebenso bunten Farben gehalten.


Als Simona uns sieht, eilt sie heran, um uns mit ihrer rauchigen Stimme zu begrüssen. Nicolò ist abwesend. Ist ja auch noch niemand da, für den es sich lohnt, den Padrone zu markieren. Sie dirigiert uns an den mittleren Tisch. Und während wir unsere Plätze einnehmen, schwirrt sie ab in die Küche, um die Gasflammen des Herdes hochzudrehen. Dann erscheint sie wieder und erkundigt sich nach unseren feuchten Wünschen. Wir bestellen Acqua minerale und Vino bianco. In diesem Augenblick erscheint der Herr und Gebieter auf dem Tapet. Simona überlässt ihm das Terrain und kehrt in ihr Reich, die Küche, zurück. Nachdem wir Nicolòs kräftige Pranke geschüttelt und ein paar italienische Freundlichkeiten gewechselt haben, geht es zur Sache.

 

Eine biedere Schweizer Familie hätte spätestens jetzt nach der Speisekarte Ausschau gehalten. Doch eine solche führt die Enoteca nicht. Bei uns sind die Wirte verpflichtet, eine Karte zu führen, auf der die Gerichte aufgelistet sind, was sie dem Gast für ein Loch ins Portemonnaie reissen und woher das verarbeitete Fleisch stammt. Nicht so in der Enoteca. Hier ist Paganini die wandelnde Speisekarte. Mit der atemberaubender Schnelligkeit eines Maschinengewehres zählt er auf, was gerade auf Simonas Herd blubbert und in ihren Töpfen und Pfannen vor sich hin brodelt und schmort und was er uns aus diesen und jenen Gründen empfehlen könne.


Schliesslich kristallisiert sich unser Nachtessen aus Nicolòs Empfehlungen: für die Signora einen Teller mit verschiedenen Trockenfleisch- und Käsesorten, Zwiebeln, Oliven und was sonst noch dazu gehört. Anschliessend einen Teller Pasta.
Mit Pasta ist man überall in Italien auf der Gewinnerseite. Ich weiss nicht, ob es auf Einbildung beruht, ich habe das Gefühl, Pasta schmecke in Italien einfach besser als auf dem ganzen Rest der Welt. Ob Spaghetti, Penne oder Tagliatelle – der Pasta hängt ein Hauch Meer, Fisch, Vino an, den man bei uns vergebens sucht. Dem Signore empfiehlt Nicolò als Vorspeise einen Teller mit einem Gericht aus Meeresfrüchten und anschliessend – wie könnte es anders sein – Pasta. Aber im Gegensatz zur Signora, die keine Fische mag, bekommt er Pasta con frutti di mare empfohlen. Ich bestelle – trotz schlechter Erfahrung im vergangenen Jahr – einen Salat caprese und als Hauptspeise dieselbe Pasta, die auch der Signore bestellt hat.


Dann folgt das Prozedere der Weinbestellung. Nicolò preist uns seine Weine an, von denen er fest und steif behauptet, sie seien der absolute Renner und würden als Geheimtipp gehandelt. Nach einigem Hin und Her einigen wir uns auf einen Weissen zur Vorspeise und später, zur Pasta, einen Roten. Nicolò holt die Flaschen vom Regal und verschwindet damit hinter der Theke. Die Theke ist ziemlich hoch und es türmt sich noch allerhand Plunder darauf, so dass wir nicht genau sehen, was er dahinter werkelt. Aber dem „Plopp“ nach zu urteilen, hat er soeben eine der Flaschen entkorkt. Nach einer Weile erscheint er mit drei gefüllten Gläsern und stellt sie uns hin. Der Wein schmeckt gut – was ich aber auch erwarte in einer italienischen Enoteca. Bleibt die Frage, was mit der angebrochenen Flasche Wein hinter der Theke geschieht.


Aus gut unterrichteter Quelle weiss ich, dass der Wein, welcher in den Flaschen zurückbleibt, mitnichten zum Kochen verwendet oder gar ausgeschüttet wird. Nein, denn sowohl Nicolò als auch Simona sind dem edlen Traubensaft nicht abgeneigt. Wäre ja schade, würde der Wein in den Flaschen verrotten. Dann trinkt man ihn besser selber. Das scheint zu einer lieben Gewohnheit bei den Beiden geworden zu sein und wenn man genau hinguckt, wirken sie tatsächlich manchmal leicht, aber wirklich nur ganz leicht angesäuselt. Aber das ist schliesslich ihre Sache und geht mich nichts an. Für mich entscheidend ist, wie ich als Gast behandelt werde und ob die Qualität dessen, was ich auf dem Teller vorgesetzt bekomme, stimmt. Und in dieser Beziehung kann ich die Enoteca „Gusto Vino“ jedem Portoferraio-Touristen nur empfehlen.


Nach dem Mahl gibt es noch Gelato und ein vom Haus gespendetes Zitronenlikörchen. Und dann geht es ans Zahlen. Nicolò ist in der Zwischenzeit wieder verschwunden. Also muss Simona ran. Ich bitte sie um die Rechnung. Sie verschwindet hinter der Theke, zückt Bleistift, Block und Rechenmaschine. Verbissen fängt sie an zu rechnen. Dann rattert die Kasse und Simona bringt mir den Zettel an den Tisch: 90 €, 30 € pro Person. Pauschalpreis. „a p. fisso“, steht auf dem Zettel. Das wäre an sich nichts Aussergewöhnliches, würde ich mich nicht an den Besuch in der Enoteca im letzten Jahr erinnern. Da stand auf dem Zettel zu lesen: 120 €. Aber da waren wir zu viert. Macht pro Person? Richtig, 30 €. Und bei meinem ersten Besuch in Nicolòs und Simonas Etablissement im Jahr 2010, haben wir ebenfalls 30 € pro Person bezahlt. Ist doch praktisch. Egal, was und wieviel man isst und trinkt, man weiss immer schon im Voraus, was man dafür zu bezahlen hat. Was ich allerdings nicht ganz durchschaue: weshalb rechnet Simona im Schweisse ihres Angesichts den Preis mit Block, Bleistift und Taschenrechner zusammen, wenn sie am Ende bei der magischen Zahl 30 € landet? Nun, das lasse ich ihr Geheimnis sein und freue mich jetzt schon auf den nächsten Besuch in der 30 €-Enoteca „Gusta Vino“.

(Anmerkung: Dieser "nächste Besuch" hat 2016 stattgefunden. Und - oh wunder - die "Enoteca Gusta Vino" hat sich vom 30 €-Lokal zum 35 €-Lokal gemausert.)